Warum Gerechtigkeitsfanatiker im Konfliktfall zu Extremisten werden

Sie haben gerade Hochsaison. Jene Typen, die getrieben von ehrlicher Überzeugung, jedem Gesprächspartner erklären wollen, warum die COVID-19 Maßnahmen der Politik richtig oder falsch sind. Unaufgefordert, unaufhörlich und zunehmend unerbittlich.

Was geht da zurzeit ab in unserer Gesellschaft? Warum eskalieren so viele Gespräche im Freundeskreis? Warum führt das sogar zu Bruchstellen quer durch viele Familien? Dabei wollen wir doch alle nur das eine: Gerechtigkeit in einer hoch emotionalen Thematik.

Steigen wir also ein in eine Betrachtung, die wesentlich ist, um die Mechanismen in Konfliktsituationen zu verstehen. Um damit wieder eine Basis für ein Miteinander zu legen.

Gerechtigkeit – was ist das?

Der Kommunikationswissenschaftler Paul Watzlawick hat sich bereits vor vielen Jahren mit der Frage beschäftigt: „Wie wirklich ist die Wirklichkeit?“. Und festgehalten, dass jeder Mensch in seiner eigenen Wirklichkeit lebt bzw. sich diese immer wieder neu gestaltet. Oder anders gesagt: Jeder Mensch hat seine eigene Vorstellung darüber, wie die Welt zu funktionieren hat. In Summe gibt es also ca. 8 Milliarden verschiedene Weltbilder auf dieser Erde.

Genauso verhält es sich mit der Frage: „Was ist Gerechtigkeit?“. Was vermuten Sie passiert, wenn Sie in einem Konfliktfall den beteiligten Parteien die Frage nach einer gerechten Lösung stellen? Genau, Sie bekommen mit hoher Wahrscheinlichkeit ganz unterschiedliche Lösungen präsentiert. Und alle Parteien sind überzeugt davon, dass ihre Lösung die einzig richtige (=gerechte) ist.

Was ist Gerechtigkeit? Diese Frage lässt sich nur so beantworten: Für jeden etwas anderes! Gerechtigkeit ist also immer subjektiv. Dieses eigene Bild, wie die Welt „richtigerweise“ zu sein hat, fußt auf einer Fülle von Indikatoren: Erziehung, Bildung, Freundeskreis, politische und religiöse Einstellung und vieles mehr. Und in der heutigen Zeit besonders wesentlich: Das, was uns in den Medien als Gerechtigkeit vermittelt wird.

Gefangen im Gerechtigkeitswahn

Wenn nun Personen mit einem stark ausgeprägten Gerechtigkeitssinn ihre unterschiedlichen Weltbilder austauschen, führt das meistens dazu, dass dieses Gespräch sehr schnell eskaliert. Ab einem bestimmten Zeitpunkt steht für Gerechtigkeitsfanatiker nur mehr eines im Vordergrund: Recht zu behalten bzw. sich für erlitten geglaubtes Unrecht zu rächen. Ist dies der Fall, ist man bereits im Konflikt gefangen und nicht mehr in der Lage, diesen ohne externe Hilfe zu lösen.

Jeder von uns kennt vermutlich so einen Fall. Egal ob Nachbarschaftsstreit, Konflikt unter Arbeitskollegen oder eben unterschiedliche Sichtweisen zu COVID19-Maßnahmen: Die Streitparteien reden zwar miteinander, bringen aber immer wieder die gleichen Argumente vor. Getrieben von der eigenen Überzeugung im Recht zu sein, dreht man sich endlos im Kreis, bis es einem der Beteiligten reicht. Und dieser dann das tut, wovon er glaubt, dass es richtig ist. Er setzt also seine eigene Gerechtigkeit um.

Die Folge? Beim Gegenüber entsteht das Gefühl über den Tisch gezogen oder betrogen zu werden. Befeuert von diesen negativen Emotionen wird das erlebte Unrecht mit gleicher Münze zurückgezahlt. Das Motiv hat sich allerdings gewandelt. Es geht nun nicht mehr um Gerechtigkeit, sondern um Rache. Wie diese Geschichte weiter geht? Es gibt mit Sicherheit für beide Seiten kein Happy End….

Im Gespräch bleiben heißt: Weg vom ICH, hin zum DU

Wer hat recht? Was ist gerecht? Diese Fragen bringen im Konfliktfall keine Lösung. Sie engen die eigene Sichtweise ein, weil sie davon ausgehen, dass es nur eine Wahrheit gibt. Gerechtigkeitsfanatiker, für die nur das eigene Weltbild zählt, neigen daher im Konfliktfall zu Extremismus. Denn es gibt wohl kaum einen stärkeren Konflikttreiber, als das Gefühl im Recht zu sein oder ungerecht behandelt zu werden.

Warum hat mein Gesprächspartner zu den COVID-19 Maßnahmen eine andere Sicht der Dinge? Wie sieht sein Hintergrund aus? Was sind seine Ängste und Sorgen? Leidet er an ernsten Vorerkrankungen? Zählt er zur COVID-19 Risikogruppe? Oder fühlt er sich durch die Maßnahmen in seiner wirtschaftlichen Existenz bedroht? Solche  Fragen leiten unsere Gedanken weg von der engstirnigen eigenen Gerechtigkeit hin zur Gefühlswelt des anderen.

Zwar ist dieser Perspektivenwechsel keine Garantie dafür, dass wir dadurch auch zu einer gemeinsamen Sicht der Dinge kommen. Aber wenn wir auf die Bedürfnisse unseres Gegenübers achten, werden wir zumindest weiterhin eine Gesprächsbasis finden. Und dann vielleicht akzeptieren können, dass andere Menschen ein anderes Weltbild haben.

„We agree, to disagree“ – auch das kann ein Lösungsansatz sein. #durchsredenkumandleutzsam


„Gerechtigkeit ohne Gnade ist nicht viel mehr als Unmenschlichkeit.“
(Albert Camus, franz. Schriftsteller)